Zwangsarbeit und Ausbeutung: Es geschieht direkt vor unseren Augen

Wir lesen darüber in diversen Medien, schauen uns schockiert die Nachrichten im Fernsehen an. Aber dass Arbeitsausbeutung, sogar Zwangsarbeit auch direkt vor unseren Augen stattfindet, wir persönlich möglicherweise sogar Nutznießer sind, ist das wirklich Erschreckende.

Das „Facility Management“-Unternehmen S.H.G. mit Sitz in Oberösterreich hat 233 Leiharbeiter ausgebeutet. Die Firmeninhaber, eine Österreicherin und ein deutscher Staatsbürger, wurden wegen organisierter Scheinselbstständigkeit, Ausbeutung und mutmaßlichen Menschenhandels angeklagt.

Die meisten Arbeiter waren irakische Asylwerber ohne Deutschkenntnisse, die österreichweit an bekannte Unternehmen, Tankstellen und Sicherheitsfirmen vermittelt wurden.

Die Asylwerber mussten selbst Gewerbeberechtigungen einholen und sich als gewerblich selbstständig Erwerbstätige versichern, um dann Rechnungen an die S.H.G. zu stellen. Allerdings waren sie in den jeweiligen Betrieben weisungsgebunden und arbeiteten dort wie in einem Angestelltenverhältnis – aber zu Niedriglöhnen. Darüber hinaus mussten sie unbezahlte Überstunden in bis zu 17-Stunden-Schichten ohne Ruhezeiten leisten. Bei Krankheit oder Urlaubswünschen wurde den Arbeitern mit Kündigung gedroht.

Dafür erhielten sie 9,50 Euro brutto pro Stunde, weit unter dem Kollektivvertrag. Der Transport zu den Arbeitsplätzen und die Unterkunft mussten davon noch extra bezahlt werden. Für die Auftraggeber lohnte es sich: Sie zahlten lediglich zwischen 14,50 und 16,50 Euro, was weit unter dem branchenüblichen Stundenpreisen liegt. Und den Differenzbetrag nahm die S.H.G. ein.

Das üble Geschäft flog auf, nachdem sich mehrere Geschädigte an die Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender (UNDOK) wandten.  Allerdings war das noch nicht das Ende des ausbeuterischen Modells: Die S.H.G. ging in Folge in Insolvenz – somit übernahm der Insolvenz-Entgelt-Fonds, finanziert durch Sozialstaatsbeiträge der Arbeitgeber, die offenen Entgeltansprüche für zumindest sechs Monate.
Ludwig Dvořák von der AK Wien sieht darin ein System. Nach der Ausbeutung der Arbeitskräfte muss die Allgemeinheit dafür bezahlen, Auftraggeber tragen hingegen kein Risiko. Möglich macht dies eine Lücke im österreichischen Arbeitskräfteüberlassungsgesetz.

Migranten und Asylwerber bilden eine vulnerable Gruppe für Arbeitsausbeuter, da sie kaum Chancen haben, am regulären Arbeitsmarkt teilzunehmen, geringe oder keine Deutschkenntnisse besitzen und oft sozial isoliert werden. Außerdem lassen die Regelungen für Leiharbeitskräfte mit Werksverträgen bei Subunternehmen oder Niedriglohnsysteme wie Akkordlöhne viel Raum für Ausbeutung.
Dass die Covid-19-Pandemie auch positive Nebeneffekte hatte, zeigen die beiden weiteren Fälle. Denn aufgrund von Masseninfektionen gelangten sie an die Öffentlichkeit.

Während der Coronakrise geriet die Fleischindustrie, vor allem der deutsche Großkonzern Tönnies, ungewollt ins Rampenlicht. Desolate hygienische Verhältnisse, verschimmelte Massenunterkünfte, Arbeitszwang trotz Erkrankungen oder Verletzungen und 60-oder mehr-Stunden-Wochen. Zusätzlich mussten auch hier die Arbeiter für ihre Unterkünfte überteuerte Preise sowie für die Fahrten ins Werk bezahlen, sogar für Arbeitswerkzeug wurde ihnen Geld abgezogen. In einem Beispiel wird von 320 Euro für ein Bett in einem heruntergekommenen Mehrfachzimmer plus 100 Euro Lohnabzug für Fahrtkosten zur Arbeit berichtet.

Durch einen Covid-19-Massenausbruch mit über 1500 Erkrankten musste die Produktion im Werk Rheda-Wiedenbrück gestoppt werden und die Zustände gelangten endlich an die Öffentlichkeit. Caritas-Mitarbeiter Konstantin Pramatarski erzählt: „Die Leute sprechen oft kein Deutsch, sind den Unternehmen ausgeliefert. Ein Vater, der mit seiner Tochter wegen Atemnot zum Notarzt musste, wurde rausgeworfen, weil er einen Tag bei der Arbeit fehlte. Eine sechsköpfige Familie habe sich monatelang ein Zimmer und ein Bett teilen müssen – im wohlhabenden Deutschland.“

Kurz nach Bekanntwerden der Missstände trat in Deutschland das Arbeitsschutzkontrollgesetz in Kraft. Autor Sascha Lübbe hat die Ausbeutung von Arbeitsmigranten erforscht: Durch das Arbeitsschutzkontrollgesetz sind die Arbeiter jetzt zwar fest angestellt, aber trotzdem gibt es immer noch Ausbeutung. Das Gesetz gilt nur für den Kernbereich der Arbeiten wie Schlachten, Zerlegen und Weiterverarbeiten des Fleisches. Für alle weiteren Arbeiten wie z. B. die Reinigung hat sich jedoch nichts verändert. Die Arbeiter können weiterhin über Subunternehmen beschäftigt und somit ausgebeutet werden. 

Warum niemand die Zustände anklagt? Die Menschen sind zu sehr eingeschüchtert, da sie dann nicht nur arbeitslos, sondern auch ohne Unterkunft in einem fremden Land auf der Straße stehen würden. Sollten sie aus keinem EU-Mitgliedsland stammen, könnten sie sogar ausgewiesen werden.
Davon abgesehen stammen viele der Arbeitsmigranten aus sozialen Randschichten ihrer Heimat, sind hartes Arbeiten für noch viel weniger Lohn gewöhnt, oft Analphabeten und wissen nicht, welche Rechte sie haben. 

Um die 300.000 Saisonarbeitskräfte, vor allem aus Mittel- und Osteuropa, arbeiten jährlich in der deutschen Landwirtschaft, unter anderem ernten sie Spargel, Erdbeeren oder Gurken.
Ohne sie könnten Anbau und Ernte nicht bewerkstelligt werden. Und zwar in einem Ausmaß, in dem die Arbeitsmigranten während der Covid-19-Pandemie sogar als systemrelevant eingestuft wurden. Es wurden Luftbrücken errichtet, um Zehntausende Menschen einzufliegen, die täglichen Höchstarbeitszeiten wurden verlängert und Ruhezeiten verkürzt.
Aufgrund fehlender Hygienemaßnahmen und räumlicher Enge gab es auch hier Massenansteckungen, die die Arbeitsbedingungen der Saisonarbeiter in die Schlagzeilen gebracht haben.

Im Unterschied zu anderen Branchen werden die Saisonarbeiter nicht über Subunternehmen, sondern direkt bei den Landwirten angestellt. Leiharbeit oder Scheinselbstständigkeit sind in der Saisonarbeit unüblich, da die Lohnnebenkosten durch die „kurzfristige Beschäftigung“ sehr niedrig sind.

Angeworben wurden die Menschen über private Vermittler oder Anzeigen im Internet, oft mit falschen Versprechungen. Zum Beispiel versprach ein Brandenburger Gemüsehof täglich 8 bis 10 Stunden Arbeit, zwei warme Mahlzeiten für sechs Euro und die Unterbringung in einem Hotel. Die Realität sah anders aus. Leben mussten die Arbeiter in verschimmelten und oft ungeheizten Mehrbettzimmern, es gab vier Duschen für 500 Menschen. Auch Wäsche waschen oder das Sichern persönlicher Wertgegenstände war oft nicht möglich. Essen gab es direkt auf dem Feld, kalt, und ohne sich vorher die Hände waschen zu können. Dafür wurde den Arbeitern jedoch 600 Euro pro Monat vom Lohn abgezogen. 

Dieser Lohn wird meist in Form von Akkordlöhnen bezahlt, z. B. 70 Cent pro Kilo handgestochenem Spargel – was jeden Mindestlohn unterschreitet. Manchmal wird sogar „Qualitätslohn“ bezahlt, das heißt, dass es nur für schönen, verkaufsfähigen Spargel Geld gibt. Dabei wird den Arbeitern die Möglichkeit genommen, ein gerechtes Abwiegen ihrer Ware mitzukontrollieren. Der Verkaufspreis lag 2024 zu Saisonbeginn übrigens bei 15-18 Euro pro Kilo Spargel.

Auch hier wurde ausgenutzt, dass die Arbeiter meist kein Deutsch sprechen und nichts über Mindestlohn oder deutsches Arbeitsrecht wissen. Außerdem können die meisten weder die Verhältnismäßigkeit der gezahlten Löhne noch die der Abzüge einschätzen.

Der Arbeitsdruck in der Landwirtschaft ist naturgemäß auch wetterabhängig, zudem gibt es Ausnahmeregelungen für die Saisonarbeit. Deshalb kommt es zu teilweise sehr hohen Stundenzahlen bei extremer Hitze oder Frost mit ungenügendem Schutz für die Arbeiter. 

Das ging 2014 so weit, dass ein 32-jähriger Rumäne während der Arbeit an einem Hitzschlag starb. Der Landwirt soll ihm trotz hoher Temperaturen und schwerer Arbeit Pausen und Getränke verweigert haben.

Auch Covid-19 forderte ein Todesopfer unter den Saisonarbeitern: Ein 57-jähriger Rumäne starb 2020 in seiner Unterkunft an den Folgen der Infektion.

Durch die Quarantäneregelungen während der Pandemie waren die Arbeiter noch stärker isoliert als durch die ohnehin meist abgeschiedene Lage der Höfe – oft durften sie das Gelände nicht verlassen, mussten aber arbeiten. Falls sie für Unterkunft und Verpflegung zahlen mussten, waren sie sogar gezwungen zu arbeiten.

„Der Chef gab uns jede Woche ein bisschen Geld, um Essen zu kaufen. Den Lohn sollten wir erst bei der Abreise bekommen. Am letzten Tag bekam ich den Lohnzettel und darauf stand, dass ich für 385 Stunden in 2 Monaten 1.980 Euro bekommen würde. Der Reisebus nach Hause stand schon da und die Schlange hinter mir war lang. Ich wollte nur noch nach Hause. Am Ende nahm ich mein Geld und stieg in den Bus.“

Die Vorenthaltung des Lohns oder auch das Zahlen von Vorschüssen, beispielsweise für Essen, ist ein konkretes Anzeichen für Arbeitsausbeutung bis hin zu Zwang im Arbeitsverhältnis. Findet die Auszahlung erst kurz vor der Abreise statt, bleibt keine Zeit, um über zu geringe Löhne oder zu hohe Abzüge zu verhandeln oder rechtliche Schritte einzuleiten. 

Oft wurden den Arbeitern sogar unter verschiedenen Vorwänden die Ausweisdokumente bis zur Abreise abgenommen. Es gibt außerdem Berichte über eine ständige Überwachung der Höfe durch Sicherheitsleute und Überwachungskameras.
All das geschieht mitten in Deutschland. Für Spargel und Erdbeeren, die teuer an gutgläubige Konsumenten verkauft werden, die die heimische Produktion unterstützen möchten.

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