Der kirgisische Ableger von Radio Free Europe, Radio Azattyk, kam im kleinen und bitterarmen zentralasiatischen Land Kirgisistan der sogenannten Webcam-Industrie auf die Schliche. Kirgisistan ist einer der Hotspots dieses zwielichtigen Zweigs der Sexindustrie. Die Recherchen und Nachforschungen von Radio Azattyk richteten sich vor allem auf zwei junge Frauen, Mirim und Adschara. Die zwei Freundinnen mussten wiederholt Erpressungen, sexuelle Nötigung und den Missbrauch persönlicher Daten über sich ergehen lassen. Adschara vermochte die seelischen Qualen nicht mehr zu ertragen und flüchtete letztlich in den Freitod.
JUNGE, ATTRAKTIVE FRAUEN GESUCHT!
Die beiden Freundinnen Mirim und Adschara haben sich erst vor Kurzem an der Universität der kirgisischen Hauptstadt Bischkek inskribieren lassen, als sie auf ein verlockendes Jobangebot stoßen. Adschara findet auf Instagram ein Inserat, in dem junge, attraktive Frauen gesucht werden. „Zuerst hieß es, dass wir online nur auf die Nachrichten von Kunden antworten und ihnen unsere Unterwäsche zeigen müssen, sonst nichts. Sie haben uns gutes Geld dafür geboten“, erzählt die 22-jährige Mirim gegenüber Radio Free Europe. Die zwei Frauen beginnen in einem der Dutzenden Webcam-Studios in Bischkek zu arbeiten. Sie schäkern mit Kunden aus der ganzen Welt, sie ziehen sich vor ihnen aus, und sie sind immer wieder auch bereit, Sexualakte – gegen gutes Geld – zu vollführen. „Im ersten Monat verdiente ich ungefähr 1.000 Dollar, Adschara sogar noch mehr, sie verdiente ungefähr 3.000 Dollar. Sie zahlten auch im zweiten Monat gut. Dann aber wurde unsere Bezahlung plötzlich gesenkt, sie zahlten uns nur noch ungefähr 600 Dollar pro Kopf.“ Und damit begannen die Probleme.
ERPRESSUNGEN AM LAUFENDEN BAND
Die zwei Freundinnen werden fortan zunehmend erpresst. Man droht ihnen an, Aufnahmen von ihnen zu veröffentlichen und sie vor ihren ahnungslosen Familien zu kompromittieren, und sie werden wiederholt zum Sexualverkehr genötigt. Die beiden jungen Frauen meiden es, sich an die Polizei zu wenden, aus Angst, dass diese mit den Studios gemeinsame Sache macht. Gemäß einzelner Quellen von Radio Free Europe ist das in Kirgisistan keine Seltenheit. Immer wieder sehen sich Opfer der Webcam-Industrie auch noch Erpressungen durch die Polizei ausgesetzt, die ihnen gleichermaßen Geld abknöpfen will. Global macht die Webcam-Industrie mehrere Milliarden Dollar Profit jährlich. In Zentralasien gelten Bischkek und die Finanzhauptstadt Kasachstans, Almaty, als regionale Zentren. Laut Schätzungen arbeiten allein im kleinen Kirgisistan 4.000 bis 5.000 Frauen für diverse Webcam-Seiten im Internet. Ein Teil der Frauen arbeitet von zu Hause aus, wobei sie „logistische Unterstützung“ von den Studios bekommen und gelegentlich Geld für die Miete. Andere wiederum nutzen die Wohnungen, die von den Studios selbst gemietet werden. Es kommt nicht selten vor, dass in einem Gebäude 20 bis 30 junge Frauen gleichzeitig arbeiten. In den meisten Fällen werden ihnen Unterkunft und Verpflegung bezahlt.
STUDIOS BEUTEN FRAUEN FINANZIELL AUS
Ein Informant vertraut Radio Free Europe an, dass in jenem Studio, in dem er als Kameramann arbeitet, 30 Mädchen unter Vertrag stünden, indes würden nur fünf angemessen bezahlt. Er erzählt ferner, dass die jungen Frauen nur einige Hundert Dollar pro Monat für ihre Dienste bekämen. „Wir aber verdienen 2.000 Dollar in der Woche mit ihnen.“ Auch andere Quellen von Radio Free Europe bestätigen, dass die Studios ein Vielfaches, im Schnitt 50 bis 70 Prozent, der Bezahlung der Mädchen einstreichen würden. Bei der Rekrutierung junger Frauen gehen die Studios vor allem in ländlichen Regionen auf die Suche. Ziel ist es, „unerfahrene, naive“ Mädchen zu finden, die bereit sind, schon für einige Hundert Dollar zu arbeiten. Inzwischen strecken die Vertreter der Webcam-Industrie ihre Fühler aber auch Richtung Almaty und Moskau aus, insbesondere in deren Vorstädte. Bischkek sei schlicht und einfach zu klein, es gestalte sich immer schwieriger, junge, arbeitswillige Frauen dort zu finden.
AUFNAHMEN AN DEN FREUND GESCHICKT
Als Mirim und Adschara sich darüber beschweren, dass ihre Löhne bereits nach zwei Monaten gekürzt worden seien, werden sie rüde zurechtgewiesen. Das Webcam-Studio, für das sie arbeiten, droht ihnen, ihre intimen Videos und persönlichen Daten zu veröffentlichen. Adschara wird von einer Managerin des Studios sogar damit erpresst, dass sie ihre Videos an die Telefonnummer ihres Freundes schickt. Adschara indes bleibt hartnäckig und sagt: „Sie hat die Nummer nicht, sie blufft nur.“ Doch sie irrt sich. Die Frau hat alle ihre Kontakte irgendwie heruntergeladen. Noch schlimmer: Sie schickt über WhatsApp mehrere Videos an ihren Freund. Daraufhin kommt es zu einem heftigen Streit zwischen dem Paar und schließlich zur Trennung. Adschara geht in dieser Zeit seelisch durch die Hölle. In der Folge verlieren sich die zwei Freundinnen „lange Zeit“ aus den Augen, ehe Mirim die Nachricht ereilt, dass Adschara sich erhängt habe. „Stellen sie sich vor, sie war erst 19“, sagt Mirim gegenüber Radio Free Europe.
LEGALISIERUNG WÄRE WOHL EINE LÖSUNG
Die kirgisische Polizei berichtet regelmäßig davon, dass sie in den „Pornostudios“ Razzien durchführe. Bei diesen kommen die Mädchen und Kameramänner in der Regel mit kleineren Geldstrafen davon. Die Eigentümer der Webcam-Studios freilich werden in den meisten Fällen von höheren Stellen im Polizeiapparat gedeckt. Zwar hat die kirgisische Regierung die Finanzpolizei im vergangenen Frühjahr aufgelöst und ihre Aufgaben an das Innenministerium und den Staatssicherheitsdienst delegiert, viel hat sich seither jedoch nicht verändert. Die Behörden haben mehrere Strafverfahren wegen des Verdachts auf Erpressung von Frauen der Webcam-Industrie eingeleitet, die Mehrheit der Verfahren wurde jedoch außergerichtlich beigelegt. In einigen seltenen Fällen wurden Bußgeldzahlungen oder Freiheitsstrafen auf Bewährung verhängt. Gleichwohl sehen viele in einer Legalisierung und Besteuerung der Webcam-Industrie einen Ausweg aus der Misere. So hätten die Frauen, die in diesem Industriezweig arbeiten, endlich Aussicht auf einen gewissen Schutz.
FÜR VIELE EINE FRAGE VON LEBEN UND TOD
Für Mirim ist die Webcam-Industrie ein Dienstleistungssektor wie jeder andere. Diejenigen, die in diesem Industriezweig arbeiten, sollten vor Gerichtsverhandlungen, sexuellen Belästigungen und Missbrauch auf jeden Fall geschützt sein. Sie gibt zu bedenken, dass diese Arbeit für viele Frauen eine Frage von Leben und Tod sei. „Es gibt sehr viele junge Frauen, die kranke Eltern oder Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen haben. Sie sind auf Geld angewiesen wie auf einen Bissen Brot“, sagt sie. Obendrein würden sie ja nichts Schlimmes tun. „Schließlich stehlen sie ja nicht.“ Freilich, wie im Falle der allermeisten Frauen in der Webcam-Industrie haben auch Mirims und Adscharas Familien und Freunde bis zum heutigen Tag nicht erfahren, dass sie in Webcam-Studios tätig waren und was sie dort erlebten.