Abseits der Laufstege, hinter geschlossenen Türen, auf abgeschirmten Foto-Shoots und doch mit dem Wissen aller. Sexueller Missbrauch ist in der Modebranche weit verbreitet, sogar erwartet bei der Zusammenarbeit mit einigen berüchtigten Personen.
ZEITEN ÄNDERN SICH. UMSTÄNDE NICHT
Wolfgang Joop bezeichnete in einem Interview mit dem Spiegel die Misogynie, den Machtmissbrauch und die sexuelle Ausbeutung der Modebrache als „Sünde“ und lamentierte über die inzwischen vergangene Frivolität der Modewelt. In seiner Entschuldigung, die auf eine Welle der Entrüstung folgte, erklärte er, er hätte sich auf die Zustände in den Siebziger- und Achtzigerjahren bezogen. Damals sei der „respektlose und missbräuchliche Umgang mit den Models“ Teil der Branche gewesen. Doch früher war nicht alles schlimmer. Die Modewelt ist nach wie vor durchsetzt von Tätern, Mitwissern und dem Gebot zu Schweigen.
DIE LISTE DER ANKLAGEN WÄCHST
Viele Überlebende von sexuellen Übergriffen haben Angst, davon zu berichten und den Täter zu nennen. In der Modebrache ist der Druck besonders groß. Die guten Jobs sind rar. Wo ein Model geht, warten bereits dutzende Nachfolger*innen. Wer sich wehrt, gefährdet oder beendet damit seine eigene Karriere. Es gäbe aber viel zu sagen. Darüber sprechen Anschuldigungen und Anklagen derer, die es gewagt haben, sich zu der Situation in der Modewelt oder bestimmten Personen zu äußern, eine deutliche Sprache. Gerald Marie, Chef der Modelagentur Elite, Edward Razek, Chief Marketing Officer von Victoria Secret sowie Mario Testino, Terry Richardson und Bruce Weber, alle Modefotografen, gehören zu den Männern, die sich schweren Missbrauchsvorwürfen gegenübersehen. Sie sind dabei keine schwarzen Schafe, sondern Teil einer Missbrauchskultur. Das zeigen die Anschuldigungen von über 50 Models gegen mehr als 25 Männer aus der Modebranche.
WER AUFMUCKT FLIEGT RAUS
„Mit der Kamera flirten“ ist ein Standardspruch. Viele Foto-Shoots verlangen das Spiel mit Erotik, viele Werbeaufnahmen sind (hyper-) sexualisiert. Haut zeigen ist normal. Auch das Umziehen am Set vor allen anwesenden Personen gehört für Models dazu. Dadurch, dass diese Situationen normalisiert sind, ist es für Models oft schwierig, eine Situation richtig einzuschätzen. Wo hören Anweisungen zu Posen auf, wo fängt sexuelle Belästigung an? Ein Model berichtet davon, wie sie sich selbst antrainieren, unangenehme Gefühle zu unterdrücken und ihr Bauchgefühl zu ignorieren. Models dürfen nicht als „schwierig“ gelten. Wer aufmuckt fliegt raus. Dies ist besonders gravierend für junge Mädchen, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Sie sind oft minderjährig, unbegleitet, unsicher und unter Druck. Zudem fehlen klare Informationen darüber, welche Situationen normal sind und wo Grenzen überschritten werden. Viele trauen sich nicht, in zweifelhaften Situationen „Stop“ zu sagen, aus Angst davor, ihre Karriere ins Stocken zu bringen, bevor sie überhaupt richtig anfängt, wenn sie nicht gefügsam sind.
DER DRUCK ZU SCHWEIGEN
In einer Branche, in der Frauen objektifiziert werden und als schön anzusehende Kommoditäten gelten, ist es besonders herausfordernd, Täter anzuprangern und sich zur Wehr zu setzen. Erschwert wird dies durch die Normalisierung der Situation und der Mittäterschaft anderer Personen. Agenturen wissen von sexueller Belästigung und Missbrauch. Sie schicken ihre Models dennoch zu Foto-Shoots mit berüchtigten Personen. Wissentlich oder sogar antizipierend, was passieren kann. Models wird beigebracht, dass sexuelle Belästigung ein Kompliment sei. Die Agenturen drängen ihre Models, Stillschweigen über unangebrachtes Verhalten und Übergriffen zu wahren. Zu mächtig sind die Namen der Täter, zu schnelllebig das Geschäft, zu fragil die Karriere.
WACHHUNDE, VERHALTENSKODEX, SENSIBILISIERUNG
Nachdem Wolfgang Joops eigener Aussage nach „deplatzierter Kommentar“ die Augen der Öffentlichkeit auf die Missstände in der Modewelt gelenkt hat, kann man hoffen, dass diese nicht schnell wieder wegschauen. Die Berichterstattung zu diesem Thema flaut schnell wieder ab und kaum nuancierte Click-Bait Artikel tragen dem Umfang der Missstände keine Rechnung. Schritte in die richtige Richtung, zu mehr Schutz, eindeutigen Richtlinien und Plattformen für Models zeichnen sich innerhalb der Modebranche ab. Die Model Alliance – eine U.S.-amerikanische Non-Profit Organisation – setzt sich für faire und sichere Arbeitsbedingungen für Models ein. Unterstützt wird in ihrem Anliegen durch die Luxus-Mode-Gruppen Kering und LVMH, die eine Charta propagieren, die andere Mode-Firmen übernehmen sollen. Der Verlag Condé-Nast reguliert mit seinem Verhaltenskodex die Verhältnisse an Foto-Sets, insbesondere die Situation zwischen Models und Fotografen. Für Sichtbarkeit und Aufdeckung von Missständen kämpfen Diet Prada und Shit Model Management. Diet Prada ist eine Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, als Wachhund der Modewelt zu fungieren. Der Instagram-Account Shit Model Management fungiert als Plattform für Überlebende, um über Missbrauch und Diskriminierung zu berichten. 2021 deckten sie auf, dass der Mode-Designer Alexander Wang sexuellen Missbrauch an männlichen und Transgender-Modellen begangen hat. Die Sichtbarkeit, die für die Missstände in der Mode-Branche erlangt wurde, weckt Hoffnung, dass das Wissen um die Umstände in mehr Sicherheit, eindeutigere Regularien und scharfe Konsequenzen für Täter konsolidiert wird.