Vor kurzem haben wir hier bereits auf die Gefährdung ukrainischer Geflüchteter durch MenschenhändlerInnen in europäischen Ländern hingewiesen. Doch das Thema “Flucht und Menschenhandel” ist ein komplexes und weltumspannendes. Das Beispiel aus anderen Teilen der Welt zeigt, was passieren kann, wenn die erste Hilfewelle für die Geflüchteten vorbei ist und Europa zur Tagesordnung übergeht.
Dort, wo reichere Gebiete in der Nähe von ärmeren liegen, in denen die öffentliche Sicherheit auch nicht gewährleistet ist, befinden sich Brennpunkte für jede Art von Ausbeutung, insbesondere den Menschenhandel. Ob in Libyen in Lagern für Geflüchtete aus Zentralafrika, die keine Möglichkeit haben, in die Festung Europa zu kommen, oder an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten von Amerika: Strenge, menschenverachtende Praxis der Abweisung von Geflüchteten führt dazu, dass diese Menschen maximal ausgeliefert sind. Dort, wo sie sind, sind sie illegal und somit der Willkür der Behörden, aber auch der kriminellen Strukturen, die sich etabliert haben, ausgesetzt.
Die selbst eher armen Transitländer kämpfen mit einem Ansturm von mittellosen Menschen. Ihr Sozialsystem ist darauf nicht vorbereitet; falls überhaupt Hilfszahlungen aus reichen Ländern oder von der UNO eintreffen, werden sie nicht primär für die unerwünschten Menschen, sondern die eigene Bevölkerung ausgegeben, oder versickern in den Taschen korrupter Beamten. Die reichen Länder, die in erster Linie die Migration bekämpfen und erst sekundär helfen wollen, fördern in zynischer Weise Strukturen, die dazu dienen, dass die Flucht gefährlicher und unattraktiver wird. Im Bürgerkriegsland Libyen hat etwa die Küstenwache Millionen dafür bekommen, möglichst keine Boote mit Geflüchteten in Richtung Europas durchzulassen.
LIBYEN – SKLAVENMÄRKTE IM 21. JAHRHUNDERT
Nach dem Arabischen Frühling und dem Sturz des irren Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 herrschte in Libyen jahrelang Bürgerkrieg, der seit 2020 in einem Waffenstillstand beendet wurde. Für Ende 2021 geplante Wahlen wurden vorerst um ein halbes Jahr verschoben, und es ist unklar, wer die Regierung führt und ob das Land überhaupt regiert werden kann.
Die muslimische Gesellschaft in Nordafrika hat eine lange Tradition von Sklavenhaltung. Diese Praxis wurde bis ins 19. Jahrhundert gelebt und erst auf sehr starken Druck europäischer Staaten beendet. Es ist kein Wunder, dass im rechtsfreien Raum auch die Sklaverei und Formen davon wie Menschenhandel wieder aufblühen. Der in den nordafrikanischen Ländern unter den “weißen” Arabern verbreitete Rassismus gegenüber Menschen aus Zentralafrika ist eine weitere Ursache dafür, dass Geflüchtete, die aus dem Süden nach Libyen kamen, akut gefährdet sind. Die Internationale Organisation für Migration hat dokumentiert, dass regelmäßig Sklavenmärkte stattfinden, an denen Menschen für Lösegelderpressung, aber auch für Zwangsarbeit und sexuelle Sklaverei verkauft werden.
Menschen, die von den Behörden aufgegriffen werden, kommen in staatlich oder halbstaatlich betriebene “Gefängnisse” (wegen der Ungesetzlichkeit der Grenzübertretung ist es leicht, eine Rechtsgrundlage”dafür zu finden). Da das Betreiben von Gefängnissen Geld kostet, haben sich aber auch “privat” betriebene “Gefängnisse” etabliert, die der Gewinnoptimierung ihrer Betreiber dienen. (Die Medien in Europa beschönigen diese oft, indem sie von “Flüchtlingslagern” sprechen.) Natürlich finden auch hier in einem Klima der Gewalt Schutzgelderpressung, Zwangsarbeit, Arbeitsausbeutung, natürlich Menschenhandel für diese Zwecke und auch Zwangsprostitution statt. Wo Menschenrechte nichts wert sind, werden Menschen schnell zur Ware.
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama nannte das Alleinlassen von Libyen im Bürgerkrieg durch die westlichen Mächte, die den Konflikt entfacht haben, den größten Fehler seiner Präsidentschaft. Dieser Fehler wirkt sich bis heute weiter aus und zeigt, dass es nicht reicht, einen Diktator abzusetzen, dann aber die Gesellschaft in einem Bürgerkrieg allein zu lassen.
MEXIKO – SEXUELLE GEWALT ALS NORM
An sich gilt das große nordamerikanische Land als demokratischer Staat mit einem gewissen Wohlstand und funktionierenden Strukturen. Die Nähe zu den USA hat jedoch einige fatale Entwicklungen begünstigt: Durch die praktisch unkontrollierte Abgabe von Feuerwaffen in den US-amerikanischen Südstaaten ist der mexikanische Markt mit eben diesen geflutet worden, und die riesige Nachfrage nach Drogen hat mächtige Kartelle entstehen lassen. Diese üben in vielen Gegenden die tatsächliche Kontrolle aus, mit Duldung oder Unterstützung einer bedrohten oder korrumpierten Polizei. Es ist also kein Wunder, dass Menschen, die aus prekären Verhältnissen in Süd- und Mittelamerika in die USA flüchten wollen, im riesigen Mexiko akut gefährdet sind.
Mexiko schottet seine südliche Grenze ab, um MigrantInnen aus den mittelamerikanischen Staaten möglichst draußen zu halten. Das ist für Kriminelle die erste Möglichkeit, mit Menschen auf der Flucht in Kontakt zu kommen. Geflüchtete sind in einer schwierigen Lage, weil sie, wenn die Behörden sie aufgreifen, in ihre Heimatländer zurück abgeschoben werden. Es besteht also die Gefahr, ein Vermögen für eine gefährliche Reise letztendlich ohne Verbesserung der eigenen Situation gezahlt zu haben. Daher meiden die Betroffenen den Kontakt zu Polizei und Behörden und sind damit den Menschenhändlern ausgeliefert.
Es gibt für verfolgte Personen die Chance, in den USA Asyl zu bekommen. Seit einem Erlass von Donald Trump, den die Biden-Administration noch nicht zurückgezogen hat, schicken die USA Asylsuchende nach Mexiko zurück, während ihr Verfahren läuft. Statt die Verantwortung für sie wahrzunehmen, gefährden die US-Behörden damit diese Menschen ohne rechtlichen Status in Mexiko.
Das State Department der Vereinigten Staaten beschreibt in einem Bericht detailliert die Situation in Mexiko — geht aber auf das Problem mit der Nichtaufnahme der Asylsuchenden nicht ein. Dafür weist der Bericht darauf hin, dass Menschenhändler in Mexiko bei der Auswahl ihrer Opfer nicht wählerisch sind: Neben Geflüchteten aus anderen Ländern werden Angehörige von indigenen Stämmen, aber auch Straßenkinder für Zwangsprostitution in Mexiko und in den USA gehandelt.
Jene, die keine Chance auf Asyl haben, müssen illegal über die streng bewachte Grenze zwischen Mexiko und den USA kommen. Da das ohne Kontakt zu Kriminellen sehr schwer ist, scheint in diesem Bereich sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen die traurige Norm zu sein. Mexikanische und US-Amerikanische Beamte sind genauso an Vergewaltigungen beteiligt wie die Schlepper oder die Kartell-Angehörigen. Es gibt keinen wirksamen Schutz vor diesen Gewalttaten.
LGBTQI-PERSONEN ÜBERALL
Menschen mit einer sexuellen Orientierung oder Gender-Identität, die von der gesellschaftlichen Norm abweicht, sind in vielen Situationen, nicht nur auf der Flucht, von zusätzlichen Gefahren bedroht. Darauf weist zum Beispiel der Bericht der United Nations Office on Drugs and Crime über Menschenhandel hin (Seite 38). Sie werden häufig von ihrer Familie verstoßen und geraten so in Strukturen, in denen sie leichter ausnutzbar sind. Der Anteil der LGBTQI-Personen unter obdachlosen Jugendlichen ist laut den dort zitierten Studien vielfach höher als in der Gesamtbevölkerung.
Wer wegen dieser Verfolgung die Flucht aus seinem/ihren Land versucht, muss unterwegs mit zusätzlichen Problemen rechnen, die Menschen, deren Identität als normal angesehen wird, nicht haben. Sie müssen etwa ihre Fluchtgründe unterwegs verschweigen, um nicht zusätzlich diskriminiert, verraten oder getötet zu werden. Gleichzeitig starten sie bereits wegen ihrer vorangegangenen Diskriminierung von einem viel schwierigeren Ausgangspunkt, mit weniger Mitteln, und das macht sie anfälliger für Ausbeutung – statt Geld müssen sie die mit anderen Dingen “bezahlen”. Sie werden somit häufiger als andere Opfer von Menschenhandel, und demokratische Länder sollten alles in ihrer Macht stehende tun, um sie zu schützen.