Eine kurze Einführung: Intersektionalität
Bereits in den späten 80er-Jahren schrieben Theoretiker:innen erste Texte zum Thema Intersektionalität. Die US-amerikanische Juristin und Professorin Kimberlé Crenshaw analysierte, wie verschiedene Diskriminierungsformen – insbesondere Rassismus und Sexismus – Überschneidungspunkte bilden und sich wechselseitig verstärken. Dieses Konzept bzw. diese Theorie bietet die Möglichkeit, gesellschaftliche Verhältnisse aus einer interdisziplinären Perspektive zu analysieren. Die Idee dahinter ist, mehrere strukturelle Verhältnisse, die einen negativ beeinflussen, in den Fokus zu nehmen und zu untersuchen, wie sie ineinandergreifen.

Um das Konzept der Intersektionalität zu veranschaulichen, wird oft das Bild einer Kreuzung verwendet: Unterschiedlichste „Spuren“ treffen aufeinander, doch welche „Spur“ am stärksten auf einen bestimmten Punkt einwirkt, ist oft schwer zu erkennen. Genauso stellt es sich im Bereich der Diskriminierung dar.
Viele Menschen unterschiedlichster Hintergründe erleben täglich Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen – sei es aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds (race), ihres Geschlechts (gender) oder ihrer sozialen Zugehörigkeit (class). Diese drei Kategorien bilden das Grundgerüst dieser Analysemethode.
Mittlerweile ist das Konzept der Intersektionalität sowohl im akademischen als auch im gesellschaftlichen Diskurs angekommen. Mit diesem Artikel soll der Versuch unternommen werden aufzuzeigen, wie vielseitig sich die Einflüsse im Bereich der Ausbeutung darstellen.
Ein Versuch: Ausbeutung und die diversen „Spuren“
Menschen, die von Ausbeutung betroffen sind, haben es oft schwer, ihr zu entfliehen. Sie sehen für sich einfach keinen Ausweg. Trotz Unterstützungsmaßnahmen, externer Hilfszentren etc. haben sie das Gefühl, nicht aus diesem Verhältnis herauszukommen – ihm nicht entkommen zu können. Doch wie kann das sein? Woran hakt es hier?
Kevin, 23, schmächtig, mit dunklerer Haut, aus einem Nicht-EU-Land
Kevin entsprach nie dem Bild eines „typischen Mannes“. Er ist dünn, sehr zierlich gebaut, und sein Gesicht weist feine, eher feminine Züge auf. Aufgrund seiner Herkunft ist seine Haut nicht typisch weiß. Er kam als Jugendlicher nach Österreich, leidet unter epileptischen Anfällen und konnte daher nur die Mindestschulausbildung abschließen. Durch einen Freund lernte er Alfonso kennen, der Kevin als äußerst „hübsch“ empfand und ihm einen Job anbot. Seitdem arbeitet Kevin in der Prostitution und sieht für sich keinen Ausweg.
Kevin dient bloß als Protagonist, um das Analysekonzept der intersektionalen Theorie zu veranschaulichen

Durch ethnische Zuschreibungen von „nicht-weiß“ erleben Menschen tagtäglich Diskriminierungserfahrungen. Sie gelten als nicht von hier, sprechen nicht „unsere“ Sprache, kennen „unsere“ Kultur nicht – das führt dazu, dass sie ausgeschlossen werden.
Eine Krankheit, die sich auf den Alltag auswirkt, aber – wie Epilepsie – eigentlich unsichtbar ist, solange kein Anfall stattfindet, lässt die betroffene Person vermeintlich gesund wirken. Das wiederum führt dazu, dass das Nicht-Bewältigen des „normalen Schulalltags, Berufsalltags“ oft nicht verstanden wird. Auch hier entstehen Ausgrenzungserfahrungen.
Durch die äußerliche Nicht-Zugehörigkeit zu einem typischen männlichen Idealtyp ist ein ständiger Identitätskampf oder sogar die Ablehnung des eigenen Äußeren bis hin zum Selbsthass möglich.
Anhand von Kevins Beispiel zeigt sich, wie tiefgreifend und vielschichtig diese Verhältnisse sind und wie sie das Gefühl verstärken können: „Ich komme nicht raus.“
Aufgrund seiner Krankheit konnte Kevin keine Matura machen und fand auch keine Lehrstelle. Durch seine nicht-weiße Hautfarbe ist er tagtäglich den „Du-bist-nicht-von-hier“-Blicken ausgesetzt. Sein Aussehen entspricht nicht den „typischen“ männlichen Zuschreibungen – er wird als verweichlicht, schwach und hilflos wahrgenommen.
Intersektionale Ausbeutung und strukturelle Gewalt
Das Beispiel Kevin soll verdeutlichen, wie tiefgreifende Mechanismen von Ausgrenzung und Ausbeutung wirken. Dieser Artikel soll ein Plädoyer darstellen – ein Plädoyer für eine differenzierte Sichtweise, um endlich nicht mehr nur an der Oberfläche ausbeuterischer Gegebenheiten zu kratzen, sondern vielmehr dazu aufzurufen, tiefer zu blicken.
Theoretische Analysekonzepte wie die Intersektionalität nehmen Macht- und Herrschaftsverhältnisse mit ins Blickfeld. Wie kommt oder kam es dazu, dass bestimmte Menschen immer wieder in den Strudel der Ausbeutung gezogen werden, während dieses Thema für eine große Anzahl an Menschen nie nachvollziehbar sein wird?
Kevins Marginalisierung ergibt sich nicht aus einer einzelnen Form der Diskriminierung, sondern aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren: ethnische Zuschreibungen, gesundheitliche Einschränkungen und geschlechtsspezifische Normvorstellungen.
Das Zusammenspiel dieser Diskriminierungen führt dazu, dass Kevin kaum Zugang zu Ressourcen oder sozialen Aufstiegsmöglichkeiten hat. Seine gesundheitliche Situation erschwert Bildungs- und Berufschancen, während rassistische Zuschreibungen ihn in der Gesellschaft als „fremd“ markieren. Seine nicht der hegemonialen Männlichkeit entsprechende Erscheinung (nicht-weiß, feminine Züge etc.) verstärkt seine soziale Verwundbarkeit und beeinflusst, wie andere ihn wahrnehmen und behandeln. Das Außen bestimmt oftmals das Innen – Ausbeutung wird als eigene Schuld wahrgenommen.
Sein Beispiel zeigt, dass strukturelle Gewalt nicht nur durch institutionelle Regelungen, sondern auch durch gesellschaftliche Vorstellungen und alltägliche Diskriminierung reproduziert wird.
Die intersektionale Analyse macht deutlich, dass Ausbeutung nicht nur durch Armut oder Migrationserfahrungen entsteht, sondern durch das Zusammenspiel verschiedener Machtverhältnisse. Um solche Mechanismen zu bekämpfen, braucht es daher nicht nur Maßnahmen gegen einzelne Diskriminierungsformen, sondern ein grundlegendes Umdenken über soziale Zugehörigkeit, Geschlechterrollen und Teilhabe.
Unsere Gesellschaft – wir – sind aufgerufen, hinter den Begriff der Ausbeutung zu blicken und endlich die Mechanismen zu demaskieren, um sie zu zerstören!
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