Schuldknechtschaft in Indien – Ein modernes System mit alten Wurzeln

Sie arbeiten in Ziegelbrennereien oder schneiden Bäume von 6 Uhr morgens bis 1 Uhr in der Nacht. Dafür bekommen sie oft gar keinen Lohn oder arbeiten für wenige Dollar pro Woche. Schuldknechtschaft ist die häufigste Form der Sklaverei weltweit und zwingt allein in Indien etwa 15 Millionen Menschen in Abhängigkeit. 

Es beginnt damit, dass ein Familienmitglied einen Kredit aufnehmen muss, um sich notwendige Ausgaben leisten zu können. Dieser Kredit ist jedoch meist mit hohen Zinsen verbunden und kann nicht oder zumindest nicht sofort zurückgezahlt werden. Es ist daher gang und gäbe, dass sich ganze Familien in Indien zur Arbeit für den Kreditgeber verpflichten, um die Schuld abzuarbeiten. Diese kann über Generationen weitergegeben werden. In vielen Fällen wird den Arbeitern gar kein Lohn ausgezahlt oder nur kleine Summen, z. B. umgerechnet 22 Dollar pro Woche, was ca. die Hälfte des Mindestlohns in Indien ist. 

ARBEIT UNTER ELENDEN BEDINGUNGEN

Bis zu 18 Stunden am Tag müssen ganze Familien in Ziegelhütten, in der Landwirtschaft, im Steinbruch oder am Bau arbeiten. Weitere Bereiche in denen Schuldknechtschaft verbreitet ist, sind die Herstellung von Teppichen, Bidis (indische Zigaretten), Shrimps oder die Arbeit als Haushaltshilfen. In Punjab schuften Arbeiter in Ziegelhütten 14 Stunden pro Tag für weniger als den Mindestlohn. Die Familien arbeiten im Team, die Arbeit beginnt um Mitternacht. Die Arbeiter müssen neben anderen Tätigkeiten heiße Ziegel aus dem Brennofen holen. Es gibt keine Pausen, wenn es jemandem schlecht geht, und auch ins Krankenhaus dürfen die Arbeiter nicht gehen. Wenn jemand aus der Familie stirbt, gibt es keine Entschädigung für die Angehörigen. Kinder arbeiten ebenfalls 7 bis 12 Stunden am Tag. Sie sind für das System unerlässlich, denn Kinder unter 14 machen in Indien ein Fünftel der Arbeitskraft aus. 

ARMUT, KORRUPTION UND KASTENSYSTEM BEGÜNSTIGEN SKLAVEREI

Die Ursachen für Schuldknechtschaft sind vielfältig. In die Schuldenfalle rutschen die Menschen meist durch hohe Ausgaben, etwa aufgrund einer Hochzeit, der Geburt eines Kindes, eines medizinischen Notfalls oder eines Todesfalles. Die eigentlichen Probleme liegen aber viel tiefer: Zum einen trägt das indische Kastensystem zur Schuldknechtschaft bei, dass Menschen in verschiedene soziale Gruppen einteilt und auch heute noch die indische Gesellschaft in Hierarchien aufspaltet. 90 % der Menschen in Schuldknechtschaft sind Dalits, gehören also der untersten Kaste, den sogenannten „Unberührbaren“, an. Sie haben (zumindest de facto) keine Rechte und sind von den höheren Kasten abhängig. Auch die extreme Armut in der Bevölkerung, Korruption unter Machthabern und der rasche Bevölkerungsanstieg, der Arbeiter:innen zu einer austauschbaren Ware macht, begünstigen die Verbreitung von Schuldknechtschaft. 

ILLEGAL ABER DENNOCH PRAKTIZIERT

Seit 1976 ist Schuldknechtschaft in Indien verboten, 1982 wurde ein Gesetz gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit erlassen. Auf Schuldknechtschaft stehen 3 Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe von 2,000 indischen Rupien. In der Realität ändert das allerdings nichts an der Lage der Menschen in Schuldknechtschaft, denn viele Inderinnen und Inder wissen nicht über ihre Rechte Bescheid und auch Regierung, Polizei und Gerichte tun wenig, um Schuldknechtschaft zu verhindern. Nur sehr zögerlich wird Strafverfolgung durch die Polizei umgesetzt und die Regierung schwächt Arbeiterrechte sogar noch. Richter:innen wiederum erkennen Sklaverei oft nicht als solche an, mit der Begründung, dass die Menschen nicht „in Fesseln gehalten“ würden und im Grunde jederzeit gehen könnten.

Dass dem nicht so ist, zeigt ein Beispiel aus Rampura im Bundesstaat Uttar Pradesh. Als sich die Familie von Babu Shah und Shana Begum weigert, weiterhin in einer Ziegelhütte zu arbeiten, nachdem sie 3 Jahre lang nicht bezahlt wurden, verklagt sie der Besitzer auf 125,000 Rupien (umgerechnet etwa 1,575 Euro). Zweimal am Tag schickt er die Polizei vorbei, die die Kinder der Familie misshandelt. Menschen in Schuldknechtschaft werden zwar nicht physisch festgehalten, aber mit Drohungen eingeschüchtert und dem Nicht-Ausbezahlen von Löhnen abhängig gemacht. Es handelt sich dabei noch immer um Sklaverei, nur die Art der Durchsetzung hat sich geändert.

NGOS MACHEN DIE ARBEIT

Weil von offizieller Seite wenig unternommen wird, sind es in der Praxis meist NGOs und andere Organisationen, die für Veränderungen sorgen. Oft ist es jedoch nicht möglich, das Geld, das den Arbeiter:innen zusteht, einzufordern, weil diese nicht wissen, für welche Arbeitgeber sie gearbeitet haben. Die NGO Jan Jagriti Kendra betreut Arbeiter:innen daher noch bevor sich diese verschulden. Die Organisationen Anti-Slavery International und Volunteers for Social Justice (VSJ) gründeten Arbeiterbewegungen in Indien. VSJ stellt den Arbeiter:innen ID-Dokumente aus und informiert sie über ihre Rechte. 

Auch das Projekt von BBC Media Action setzte sich die Aufklärung der Arbeiter:innen als Ziel. Zum einen wurde die Radiosendung Majboor Kisko Bola ins Leben gerufen und in 110 Dörfern ausgestrahlt, die vorher von der Außenwelt abgeschnitten waren und weder TV noch Radio oder Zeitungen – und manchmal nicht einmal Strom – hatten. Die Sendung klärte die Zuhörer:innen über ihre Rechte auf und informierte über Regierungsmaßnahmen. Das Ergebnis: Mehr als 3.000 Menschen beantragten Mindestlöhne und die Akzeptanz gegenüber den „Unberührbaren“ stieg. Außerdem wurden auch lokale Journalist:innen darin geschult, Formen der Sklaverei zu erkennen und darüber zu berichten. Durch die zunehmende Berichterstattung konnten 200 Menschen aus der Schuldknechtschaft befreit werden. 

FRAUEN UND KINDER LEIDEN BESONDERS

Das Leben in Schuldknechtschaft bedeutet menschenunwürdige Zustände für alle Betroffenen. Dennoch werden die Rechte von Frauen und Kindern am meisten beschnitten. Den Kindern wird das Recht auf ein Studium oder eine andere Ausbildung verwehrt, sie wachsen ohne Hoffnung auf und müssen mitansehen, wie ihre Eltern misshandelt werden. Laut Gesetz müssten die Kinder für ihre Arbeit Freigabezertifikate bekommen, die sie von der vermeintlichen Schuld ihrer Familien befreien – in den meisten Fällen passiert das jedoch nicht. Häufig müssen Eltern auch ihre Kinder als Pfand hergeben, während sie ihre Schulden abarbeiten. Die Kinder werden dann ebenfalls als kostenlose Arbeitskräfte eingesetzt. Auch Frauen bekommen kein Geld, obwohl sie 40 % der Arbeitskraft ausmachen. Das Geld, das eine Familie einnimmt, wird im Normalfall an das männliche Familienoberhaupt ausbezahlt. Sklaverei, Sexismus und Kinderarbeit sind hier also wie in vielen Fällen eng miteinander verbunden.

BILDUNG, MIKROKREDITE UND HÖHERE STRAFEN ALS AUSWEG – UND AUCH WIR KÖNNEN ETWAS TUN

Um Schuldknechtschaft ein für alle Mal abzuschaffen braucht es laut Charity-Initiatorin Bernadette David verschiedene Ansätze. Es müsse höhere Strafen geben, um Schuldknechtschaft für Arbeitgeber:innen unattraktiver zu machen. Arbeiter:innen und Arbeitgeber:innen sollen einen direkten Zugang zum Markt bekommen, um teure Zwischenhändler zu umgehen. Es brauche effektive ländliche Bildungsprogramme und Initiativen gegen Armut. Außerdem sollen arme Menschen Zugang zu vertrauenswürdigen Mikrokrediten bekommen, um keine Schulden bei Arbeitgeber:innen zu machen, die sie über Jahre oder Jahrzehnte hinweg ausnützen. Aber auch wir können dabei helfen, moderne Sklaverei in Indien zu beenden: Wenn wir bereit sind, mehr für ein fair gehandeltes Produkt zu bezahlen, stellen wir sicher, dass für unseren Konsum niemand ausgebeutet wird. 

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